Elmar Altvater

Die Gläubiger entmachten

Bei uns Rürup und Herzog, im Süden die IWF-Programme

(Impulsreferat zum ATTAC-D-Ratschlag in Aachen am 17.10.2002, veröffentlich im „FREITAG“ Nr. 44)

  


Die Debatte um Wirtschaft und Soziales in Deutschland hat etwas Gespenstisches.

 

Ø       Auf der einen Seite wird Deutschland als neuer Exportweltmeister gefeiert (FTD, 14.10.03). Auf der anderen Seite werden die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten beklagt, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland unterminiert hätten.

Ø       Auf der einen Seite war in Deutschland in den vergangenen Jahren die Lage so schlecht nicht wie sie derzeit schwarz geredet wird. Denn das Sozialprodukt wuchs seit der Einigung um zwar bescheidene, aber doch positive 0,75 Prozent pro Jahr. Auf der anderen Seite tönt ein Chor mit Mediensopran, Unternehmerbass und Politikertenor einhellig, Deutschland könne sich den Sozialstaat nicht mehr leisten. Begleitet von dieser Musik ist Rot-grün dabei, sekundiert von Schwarz-gelb, die Axt an die Wurzeln der sozialen Sicherung zu legen.

Ø       Auf der einen Seite unterstützt unsere Regierung  wortgewaltig die Millenniumsziele der Weltbank, die Armut in der Welt bis zum Jahre 2010 um die Hälfte zu reduzieren. Auf der anderen Seite stößt ihre Politik der sogenannten Reformagenda 2010 hierzulande Millionen Menschen, wenn sie denn kein formelles Arbeits­einkommen haben, an den Rand der Armut und häufig darüber hinaus.

Ø       Auf der einen Seite erhalten die großen Versicherungs-konzerne Deutschlands Steuergeschenke im Milliardenumfang, zwischen 5 Mrd bis 10 Mrd € allein im Jahre 2003. Auf der anderen Seite will die rot-grüne Koalition Langzeitarbeitslose mit einem Zugriff auf ihre in Lebensversicherungen angesparten Reserven bestrafen (beide Mitteilungen, die eine auf S. 1, die andere auf S. 14 in FTD, 13.10.03).

Ø       Auf der einen Seite Kürzungen und Belastungen – von der Reduzierung des Weihnachtsgeldes bei Beamten über die Verlängerung der Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst, die Erhöhung städtischer Gebühren und über die Streichung von gesundheitlichen Versicherungsleistungen bis zur Senkung von Renten und Arbeitslosengeld. Niemand hat es bislang genau ausrechnen können, zu welchen Beträgen sich diese Einschnitte auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene eigentlich summieren. Es ist einigermaßen realistisch anzunehmen, dass die Belastungen auf eine 20prozentige Senkung der Einkommen hinauslaufen. Auf der anderen Seite die Entlastung der großen Unternehmen. Diese haben seit 2001 über zwei Milliarden € Körperschaftssteuer zurückerstattet bekommen. Konzernchef Schrempp prahlt, dass Daimler-Chrysler schon lange keine Steuern mehr abgeführt habe. Die Medien berichten beifällig, dass Boris Becker oder Müllermilch in der nahen Schweiz das Weite gesucht haben, um sich an den Kosten des Gemeinwesens nicht beteiligen zu müssen. Die gewinnabhängigen Steuern sind in den letzten drei Jahren um ein Drittel von mehr als 90 auf knapp über 66 Milliarden € gesunken. In Europa ist der Anteil der Kapitalsteuern am Steueraufkommen von 50% zu Beginn der 80er Jahre auf 35% um die Jahrhundertwende zurückgegangen. Die rot-grünen Steuergeschenke an die Vermögenden sind sehr willkommen. Das ist der kleine Finger, aber sie wollen die ganze Hand. Der am wenigsten mobile Produktionsfaktor (Arbeit) trägt einen immer größeren Anteil der Steuerlast.

Ø        

Kniefall von Lula

 

Deutschland ist keine Ausnahme. Das Gespenst der Umverteilung von unten nach oben geht auch anderswo um in der globalisierten Welt. Es braucht seit 1989 das Gespenst des Kommunismus nicht mehr zu fürchten. In der Dritten Welt ist im vergangenen Jahrzehnt trotz schwerer Finanzkrisen positives Wachstum zu verzeichnen, und doch lautet die Devise der internationalen Institutionen: Gürtel enger schnallen, um Überschüsse in der Leistungsbilanz zu erzielen – so als ob alle Länder gleichzeitig eine positive Bilanz haben könnten. Auch Überschüsse in den Staatshaushalten werden verlangt. Zum Beispiel soll Brasilien gemäß IWF-Auflagen einen Primär-überschuss von 3,75% erzielen. Die Lula-Regierung verspricht sogar, einen 4%igen Überschuss bis zum Ende der Amtszeit durchzuhalten. Diese enorme Anstrengung wird nur gemacht, um genügend Mittel für den Schuldendienst an die Gläubiger der Staatsschulden, das sind vor allem international operierende Banken, Versicherungen und Fonds herein zu bekommen. Der Kampf gegen den Hunger geht dabei verloren, und die von Lula versprochenen sozialen Reformen bleiben aus.

 

Defizite?

 

Zurück nach Europa. Auch im Eurogebiet ist die Primärbilanz aller Staatseinnahmen und -ausgaben strukturell positiv, im vergangenen Jahr mit 1,8 Prozent. In Deutschland werden ebenfalls leichte Überschüsse erzielt. Wie kommt es dann zur Jammerdebatte um den Bruch des Maastrichter Stabilitätspaktes? Erst wenn man den Schuldendienst mitberechnet, der im Sekundärbudget eingestellt wird, kommen die Defizite der öffentlichen Haushalte zustande, die nun ein großes Geschrei um die „Verletzung des Maastrichter Stabilitätspaktes“ auslösen. Es müsse gespart, der Gürtel enger geschnallt werden. Nach Adam Riese wären ja bei positivem Wachstum und einem primären Überschuss des Staatshaushalts leichte Zuwächse für alle möglich. Doch die Logik der Gespensterwelt lautet in aller Schlichtheit: Wenn der Staatshaushalt insgesamt defizitär ist, dann rührt bitte sehr das dafür verantwortliche defizitäre Sekundärbudget nicht an, Zinszahlungen an die Halter von Staatsanleihen sind tabu. Nicht aber die Sozialausgaben und die Einnahmen aus Steuern und Abgaben auf Löhne und Gehälter. Schneidet dort und reduziert hier, um den Überschuss im Primärbudget zu steigern.

 

Zinszahlungen tabu

 

Die Zinszahlungen im Sekundärbudget gelten als sakrosankt. Das Kapital ist bekanntlich ein scheues Reh – und das bei realen Zins-sätzen, die seit Jahren überall in der Welt oberhalb der realen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate liegen. Selbst derzeit sinkende Nominalzinsen sind noch zu hoch, weil gesamt-wirtschaftliches Wachstum und die Inflationsrate in einer Lage, in der der IWF bereits deflationäre Gefahren erblickt, gegen null gehen. Alle reden von der „Gerechtigkeitslücke“, die Haushalts-sanierer aller Länder machen sie, auch die Bundesregierung.

Mit der Agenda 2010, mit Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Krankenversicherung, mit einer Verschlechterung des Kündigungsschutzes und durch Lohnabbau im Niedriglohnbereich, durch Einschnitte bei Renten und Pensionen, mit Angriffen auf den öffentlichen Dienst und damit auf die Versorgung der Bevölkerung wird ein mächtiger Schlag zu Gunsten derjenigen geführt, die über Geld und Kapital verfügen.

Was hierzulande Hartz-, Rürup-, Herzog-Kommission oder die Agenda 2010, das sind in anderen Weltregionen die Struktur-anpassungsprogramme von IWF und Weltbank. Nicht alle Bevölkerungsgruppen sind in gleichem Maße zur „Gestaltung der Erneuerung“, wie die Sozialdemokratie ihr Projekt 2010 bezeichnet, aufgerufen. Die Generosität denjenigen gegenüber, die Kapitalerträge und Zinseinkünfte beziehen, ist ebenso einseitig wie die Austerität, die denen abverlangt wird, die auf Arbeits-einkommen angewiesen sind oder keine Arbeit haben bzw. aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Das ist ein „Konsens von Washington“, den dessen Urheber gern auf alle Welt ausdehnen würden. Der Grüne Bütikofer ist dabei, Verzicht und Sparen, so meint er, finden zu Gunsten des Gemeinwesens statt. Diejenigen werden mit keiner Silbe erwähnt, die sich aus der Solidar-gemeinschaft, reichlich mit rot-grünen Steuergeschenken belohnt, haben verabschieden dürfen.

Geld regiert die Welt, und zwar in einem Ausmaß, das sich der Urheber des Wortes, Pubilius Syrus aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, niemals hätte vorstellen können. Geld ist eine soziale Beziehung zwischen denen, die es haben, und denjenigen, die es benötigen, zwischen Geldvermögensbesitzern und Kapitaleigentümern einerseits und Schuldnern andererseits. Die letzteren haben Schuldendienst zu leisten, der zum Zuwachs der Geldvermögen und des Kapitals beiträgt. Dass so die Ungleichheit in der Welt zunimmt, ist wenig verwunderlich. Das Millenniumsziel der Armutsreduktion wird auf der Strecke bleiben. In ihrem jüngsten Report über die Ungleichheit in Lateinamerika und der Karibik muss die Weltbank eingestehen, dass in vielen Ländern die Reichen reicher und die Armen wohl ärmer geworden sind; die 10 Prozent reichsten Haushalte verfügen über 48 Prozent der Einkommen, die zehn Prozent Ärmsten über gerade einmal 1,6 Prozent (Weltbank 2003).

Eric Hobsbawm hatte Recht, als er das „kurze 20. Jahrhundert“ als ein Jahrhundert des Wachstums bezeichnete und das 21. Jahrhundert als Jahrhundert der Verteilung voraussah. Er hatte damit freilich nicht eine so schamlose Umverteilung von unten nach oben gemeint, wie sie derzeit überall in der Welt erzwungen wird. Diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzen, stehen plötzlich als Anwälte der Verkrustung, als Feinde der Flexibilität und Modernität, als Reformbremser, als konservative Besitzstands-wahrer da. Wenn sie sich zur Wehr setzen, laufen sie Gefahr, von den konservativen Rechtsaußen als „Terroristen“ eingestuft zu werden.

Von einigen werden die Kürzungen bei Gesundheitsleistungen und Pensionen genutzt, um die Alten für die Belastung der Jungen verantwortlich zu machen und nach „Generationengerechtigkeit“ zu rufen. Diese Art Gerechtigkeit wird gesponsert von Versiche-rungskonzernen und Pensionsfonds, die sich bei der Privatisierung von Alters- und Gesundheitssicherung ein schönes Geschäft versprechen. Doch Gerechtigkeit zwischen Generationen mit einer Versicherungspolice kaufen zu wollen, ist ein törichtes Unterfangen.

 

Rache für Cancun

 

Bei allgemeiner Verunsicherung infolge der Demontage der sozialen Sicherungssysteme wächst aber auch die Skepsis, und zwar weltweit, gegenüber den Versprechen der Befürworter kommerzieller Globalisierung, von Liberalisierung und Deregulie-rung der Märkte oder der Privatisierung öffentlicher Güter. Auf der einen Seite werden Gesellschaften weiter fragmentiert, und jeder ist bei der Auflösung der Solidarsysteme sich selbst der nächste. Auf der anderen Seite aber entsteht auch kollektive Gegenwehr. In Cancún ist es den Ländern der Dritten Welt zum ersten Mal gelungen, aus ihrer subalternen Rolle zu entschlüpfen und der Arroganz der großen Handelsblöcke in Nordamerika und Westeuropa einen Machtblock der 21 entgegen zu stellen. Daran waren nicht zuletzt auch die sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen in aller Welt beteiligt. Doch der Triumph über diesen Sieg sollte nicht überschwänglich ausfallen. Die Macht zu Pressionen der Industriestaaten, der USA und der EU, ist enorm, und sie bindet weder ein ethisches Prinzip von Gerechtigkeit oder Gleichbehandlung noch die Regeln der WTO, die sie selbst verabschiedet haben.

 

So hat es die US-Regierung, vertreten durch den Handels-beauftragten Zoellick, bereits wenige Wochen nach Cancún geschafft, Kolumbien, Peru, Costa Rica und demnächst auch Ecuador aus der Allianz der 21 herauszubrechen. Ein großer Erfolg der Supermacht und das Zeichen dafür, dass der Sieg von Cancún möglicherweise ein Pyrrhus-Sieg war. Am Ende erfolgloser Aufmüpfigkeit, so zynisch triumphierend Zoellick, solle Brasilien doch mit der Antarktis Handel treiben. Die Freihandelszone der beiden Amerikas wird dominiert von der Belétage nördlich des Rio Grande, der Rest des Kontinents bleibt ein Hinterhof der USA. Die Regeln des Freihandels der WTO, die die Bush-Regierung in gut neoliberaler Manier aufs Panier geschrieben hat, kümmern sie in der Regierungspraxis nur wenig. Der Widerstand der sozialen Bewegungen gegen die Globalisierung des Kommerz wird daher fortgesetzt, in welcher Form auch immer.

 

Euro und Dollar

 

Doch ein anderer Konflikt lässt sich nicht so lässig-schnöselig von der Bush-Regierung lösen: die Währungskonkurrenz zwischen Euro und Dollar nämlich. Hier handelt es sich um einen Konflikt, der sich derzeit aufbaut. Eine Währung, so sie denn wie der US-Dollar Leitwährung ist oder den Anspruch darauf erhebt, muss mehrere Funktionen erfüllen. Sie muss (1) als Reservewährung der Zentralbanken verwendet werden, sie muss (2) als Handels-währung dienen, in der die wichtigsten Kontrakte privater Akteure denominiert werden, sie muss den Kapitalanlegern (3) Anlagewährung sein, in der Anleihen etc. ausgeschrieben sind. Sie muss darüber hinaus (4) als Ölwährung fungieren, weil mit ihr der strategische Preis des Energie-Inputs der Industriegesellschaften (und auch der „post-industriellen“ Gesellschaften) bezahlt wird. An diesen Funktionen bemessen, ist der US-Dollar ohne Frage gegenüber dem Euro (und allen anderen Währungen) im Vorteil.

Doch ist die Vorherrschaft der USA auf Weltmärkten und in der globalen Politik zwar eindrucksvoll, aber nicht absolut. Das wachsende Zwillingsdefizit – OECD-Projektionen erwarteten im Frühjahr für 2003 ein Defizit der öffentlichen Haushalte von –4,6%, und ein Defizit der Leistungsbilanz von –5,4% gemessen am BIP (OECD 2003: 43) - signalisiert eine strukturelle Schwäche der amerikanischen Ökonomie; aktuellere Daten zeigen noch schlechtere Werte. Das ist die Kehrseite der Jubelstory vom deutschen Rekordüberschuss in der Handelsbilanz. Die unaus-weichliche Talfahrt des US-Dollar und die Aufwertung des € seit dem Frühjahr 2003, in Dubai beim IWF-Treffen von den Finanzministern der Industriestaaten noch unterstützt, hat den für die US-Ökonomie auf den ersten Blick positiven Effekt einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des „Standorts“. Das ist günstig für den US$ als Handelswährung, sofern die Abwertung tatsächlich die Exporte anregt und die Importnachfrage bremst – was aber keineswegs sicher ist. Wenn der Weltmarktanteil der US-Exporte in Folge der Abwertung wieder ansteigen soll, müssen andere Länder spiegelbildlich Marktanteile abgeben. Das ist nur dann kein Problem, wenn die Weltökonomie insgesamt dynamisch wächst. Dies jedoch ist wegen der in allen Weltregionen betriebenen exportorientierten Austeritäts- und Deflationspolitik nicht der Fall. Daher ist es eher wahrscheinlich, dass es zu Handelsauseinandersetzungen kommt, vor allem zwischen den USA, Westeuropa und den ostasiatischen Ländern. Ob sich dann der deutsche Handelsbilanzüberschuss wird halten lassen, ist eher fraglich. Es zeigt sich wieder einmal, wie gefährlich eine Politik der Lohnsenkung sein kann: Denn die Wechselkursänderung zehrt jedes Zugeständnis bei den Löhnen auf, und die innere Nachfrage fehlt, wenn die Exportnachfrage ausbleibt. Selbst die FTD kommt zu diesem für sie überraschenden und angesichts der Propaganda gegen die Gewerkschaften eher peinlichen Schluss (Leitartikel der FTD, 14.10.03).

Als Reservewährung wird der Dollar durch eine Abwertung geschwächt, und als Anlagewährung weniger interessant für Kapitalanleger sein, zumal Kursgewinne bei stagnierendem gesamtwirtschaftlichen Wachstum und deprimierter Börse kaum zu machen sind. Zentralbanken und Kapitalanleger werden in dieser Situation möglicherweise Kapital aus den USA abziehen, das diese aber benötigen, um die Defizite der Leistungsbilanz und des Staatshaushalts zu schließen. Die Verluste einer Dollar-Abwertung würden alle jene zu tragen haben, die in den vergangenen Jahren Dollarreserven aufgebaut haben, zum Teil als eine Art „Kriegskasse“ zur Verteidigung der eigenen Währung gegen spekulative Attacken der großen privaten Fonds. Das ist eine Lehre der schweren Finanzkrisen der 90er Jahren. Daher halten die ostasiatischen Zentralbanken im Frühjahr 2003 Devisenreserven in der Höhe von 927 Mrd US$. Davon entfallen auf Japan mit 479 Mrd US$ mehr als die Hälfte und China hält mit 286 Mrd US$ fast ein Drittel. Auch die Europäische Zentralbank hält US$-Reserven, und zwar in der Größenordnung von 220 Mrd US$. Der Anteil des Euro an den Währungsreserven der Zentralbanken hat sich von 1999 bis 2003 von ca 10% auf an die 20% erhöht, während der US$-Anteil von ca. 70% auf 60% zurückgegangen ist (FTD 8.5.03, S. 29). Dies Entwicklung während der 90er Jahre, in denen der Anteil des US$ an den Weltdevisenreserven von 55,3% (1992) auf 68,1% (2000) gestiegen ist, kehrt sich also um (IMF 2002: 97).

 

Ölpreis und Geostrategie

 

Neben den Zinssätzen und Wechselkursen ist der Ölpreis der dritte strategische Preis der globalisierten Weltwirtschaft. Der Lebenssaft der modernen industriellen und post-industriellen Systeme wird bislang vornehmlich in Dollar ausgepreist. Für die USA ist dies ein immenser Vorteil, zumal im Rahmen eines weitreichenden und langfristig angelegten geostrategischen Kalküls, das die Bush-Regierung verfolgt (nachzulesen im Cheney-Report von 2001). In dieses Kalkül gehen ein:

(1)     die Kontrolle der Regionen, in denen die Ölressourcen extrahiert werden;

(2)     die Kontrolle der Angebotsmenge auf den Energiemärkten;

(3)     die Kontrolle der Transportlogistik und der Routen der Verbringung des Öls aus den Förderländern in die Verbrauchsländer mit Pipelines oder mit Tankern;

(4)     die Beeinflussung der Höhe des Preises und

(5)     die Bestimmung der Währung, in der der Preis ausgedrückt wird.

Beim Kampf um das Öl geht es also um territoriale Herrschaft, aber auch um Herrschaft über den ökonomischen Raum der wichtigsten Ressource der modernen Gesellschaften.

Weil die Rate der Erschöpfung bekannter Felder seit den 90er Jahren höher als die Rate der neu gefundenen und für die Förderung erschlossenen Felder liegt, ist die Herrschaft über neue Ölfelder so wichtig. Die Ausbeutung beträgt derzeit ca. 22 Mrd Barrels pro Jahr, es werden aber nur im Durchschnitt Lagerstätten von ca. 6 Mrd Barrel pro Jahr neu gefunden. Der Höhepunkt der globalen Ölproduktion ist also überschritten; die schönen Zeiten, in denen die Funde neuer Lagerstätten größer waren als die Ausbeute, sind vorüber – und sie kommen niemals wieder. Die Ölvorräte sinken also jährlich um 16 Mrd Barrels. Der Krieg gegen das Taliban-Regime in Afghanistan bot den USA die Gelegenheit, militärisch auch in den zentralasiatischen Ländern Fuß zu fassen, nahe den neuen Ölquellen rund um das Kaspische Meer und in jenen Ländern, durch die die Pipelines verlaufen oder projektiert werden. Außerdem wird durch geostrategische Kontrolle Zentralasien aus dem Einflussbereich Russlands und Chinas, aber auch Indiens und des Iran herausgehalten. Es sind eindeutig geopolitische Erwägungen, die die Ölpolitik bestimmen und die schon Mitte der 90er Jahre außenpolitische Strategen wie Brzezynski die zentrale Rolle Zentralasiens für die globale Hegemonie der USA unterstreichen ließen (Brzezynski 1997). Doch inzwischen kommt auch der afrikanische Kontinent mit seinen Ölressourcen ins Visier der Oil-connection von Exxon, Halliburton zu Rice, Cheney und Bush. Dort sind aber auch alte und neue Europäer aktiv.

Der Irak verbindet den geopolitischen Raum Zentralasiens und des Nahen und Mittleren Ostens und er verfügt über 11 Prozent der globalen Ölreserven. Obendrein können die Besatzer des Irak möglicherweise Einfluss auf die Preispolitik der OPEC nehmen. Die USA haben sich also eine vorzügliche strategische Ausgangs-position bei der Kontrolle von Lagerstätten und Transportrouten von Öl mit Hilfe der Kriege gegen Afghanistan und den Irak verschafft – wenn das Kalkül der US-Ölstrategen aufgeht und wenn niemand da ist, der die US-Elite wegen ihrer Kriegs-verbrechen, des Bruchs internationalen Rechts und der Verletzung von Menschenrechten zur Verantwortung zieht. Alles spricht dafür, dass der US$ Ölwährung bleibt, auch wenn der US$ gegenüber dem Euro schwächer notiert. Die zaghaften Ansätze Lybiens, Venezuelas, des Irak und anderer Ölförderländer, vom US$ zum Euro zu wechseln, sind nach der Irak-Invasion stecken geblieben. Der politische Druck, den die USA auszuüben vermögen, und die militärische Drohung, die dahinter steht, sind zu groß.

Gerade angesichts steigender Nachfrage nach dem schwarzen Stoff, da ja China, Indien und andere Länder bei der Industrialisierung nachziehen wollen – und müssen, wenn sie das Regelwerk der WTO respektieren - ist die Beherrschung von Ölproduktion und Ölmarkt entscheidend. Wer meint, bei der Versorgung mit diesem Treibstoff der Industriegesellschaften würden Marktgesetze mit „unsichtbarer Hand“ wirken, ist blind für die sehr sichtbare und schmerzhaft fühlbare Hand der politischen und militärischen Macht. Es geht um geopolitische Herrschaft über die bekannten Reserven und um Zugang zu vermuteten Ölfeldern, und es geht um die Fähigkeit, das Angebot und den Preis des Öls zu beeinflussen und die Währung anzubieten, in der er zu zahlen ist. Der Markt der Geoökonomie und die politische und militärische Macht wirken geopolitisch zusammen. Daher können die Konservativen in den USA zugleich neoliberal das Hohelied auf den Markt und die Konkurrenz erschallen lassen und die Kriegstrommeln der Geopolitik und des „Kampfes gegen den Terrorismus“ rühren.

 

Super-Gau in den USA?

 

Es ist allerdings überhaupt nicht auszuschließen, dass ein abgewerteter US$ als Anlage- und Reservewährung weniger attraktiv wird und dann doch als Ölwährung teilweise durch den Euro ersetzt wird. Es könnte auch passieren, dass der Preis als Antwort auf den Wertverlust des US$ wie 1973 abrupt steigt, sofern sich den Ölproduzenten eine Gelegenheit wie damals der israelisch-arabische Krieg bietet. Bei dem riesigen Handelsbilanz-defizit der USA würde die Finanzierung von notwendigen Ölimporten in Fremdwährung für die USA ein nahezu unlösbares Problem, denn die eigene Produktion ist um jährlich ca. 300.000 Barrels rückläufig und der größte Teil des Ölverbrauchs in den USA (an die 60%, Tendenz steigend) wird (derzeit für jährlich ca. 130 Mrd US$) importiert. Bei einem Leistungsbilanzdefizit von 553 Mrd US$ im Jahre 2003 hätte die Finanzierung der Ölimporte in Euro gewaltige strukturelle Auswirkungen auf die US-Ökonomie – und auf die Weltwirtschaft insgesamt. Denn die anderen Länder müssten mehr aus den USA importieren und könnten weniger in die USA exportieren – oder sie müssten eine weiter steigende Verschuldung der USA finanzieren, die schon heute höher ist als die gesamte Außenschuld der Dritten Welt. Der Super-Gau in den USA wäre auch für Europa ein schweres ökonomisches Erdbeben. Die nachfolgenden Turbulenzen könnten „wie eine Deglobalisierung wirken“ (FTD, 30.5.03), nämlich die Integration der Weltwirtschaft verlangsamen oder sogar in Teilbereichen rückgängig machen – freilich nicht so, wie wir uns Deglobalisierung wünschen: als eine Re-Regulierung der deregulierten Weltwirtschaft und die stärkere Berücksichtigung regionaler Kreisläufe und solidarischer Kooperation.

 

Alternative zum Euro-Imperialismus

 

Die Währungskonkurrenz zwischen Dollar und Euro (und evtl. Yuan, vielleicht Yen) würde zum Währungskrieg eskalieren. Der derzeitige Konflikt zwischen „altem“ und „neuem“ Europa dürfte sich zuspitzen, angeheizt von den USA, die inzwischen die Strategie verfolgen, den europäischen Integrationsprozess zu behindern (vgl. FTD 10.7.03). Das „neue“ Europa könnte sehr bald so alt aussehen wie die „new economy“ nach dem Absturz. Es könnte auch sein, dass sich die europäischen Ölförderländer England und Norwegen eher an den Euro halten als an den US$, und dies würde ebenfalls für die USA eine Niederlage bedeuten.

Einige meinen, Europa solle sich auf einen Währungskrieg einlassen. Doch ein eventueller Austausch des Dollar-Imperialis-mus durch einen wie auch immer gearteten Euro-Imperialismus hätte nur eine kurze Halbwertzeit. Denn warum sollte der Euro-Imperialismus besser sein als der Dollarimperialismus? Die Konsequenzen sind für alle Beteiligten und vor allem für die Betroffenen in Afrika, Asien oder lateinamerika negativ, zumal es eine Alternative gibt. Diese heißt: Entwicklung der solaren Energien und weg vom Öl als Brennstoff des industriellen und postindustriellen Zeitalters. Solare Energien haben nicht den Nachteil der fossilen Energieträger, das Klima aufzuheizen. Die Transformation des Energieregimes könnte die längerfristige, und vor allem friedliche europäische Antwort auf den Konflikt um die Ölwährung sein.

 

Das wird aber nur möglich sein, wenn man sich vom Diktat des Sekundärbudgets befreit: durch eine international koordinierte Politik, die auf Senkung der realen Zinssätze zielt und die Wechselkurse stabilisiert, also die neben dem Ölpreis anderen beiden strategischen Preise wieder einem stärkeren öffentlichen Einfluss unterwirft. Die neoliberale Privatisierung der Preis-bildung auf Währungs- und Kapitalmärkten seit 1973 muss rückgängig gemacht werden, auch gegen Zentralbanker wie Ottmar Issing, der es erst jüngst wieder ablehnte, auf die Kursentwicklung seitens der EZB Einfluss zu nehmen und diese statt dessen den privaten Spekulanten zu überlassen. Ohne Beseitigung der schwarzen Löcher der Weltwirtschaft, wo die Steuerflüchtigen aller Herren Länder den möglichen Budget-überschuss versenken, weil sie ihren staatsbürgerlichen Steuer-pflichten nicht nachkommen, wird man den Staatshaushalt nicht sanieren können. Hier gibt es auch Aufgaben der Zivilgesellschaft, denn Steuerflucht gilt hierzulande als cleveres Kavaliersdelikt.

 

Ein verrückter Mechanismus

 

Perverserweise kommen dabei hohe und steigende private Geldvermögen zustande und ihre Besitzer suchen nach rentabler Kapitalanlage. Die Verschuldung des öffentlichen Sektors ist dabei von denen hoch willkommen, die sonst nach Einsparungen rufen. Die Zinsen auf die Staatsschuld, die im sakrosankten Sekundär-budget verbucht werden, kommen den privaten Anlegern zu Gute. Kürzungen im Primärbudget, also im Sozialhaushalt, sind unvermeidlich und werden von ihnen begrüßt. Das ist ein Perpetuum mobile der Umverteilung von unten nach oben, und zwar in globalem Maßstab. Man wird diesen verrückten Mechanismus  anhalten müssen, um überhaupt an die tatsächlich notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme, an die Schaffung einer sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert heran gehen zu können.

Eine andere Welt ist möglich. Eine andere Politik ist nötig. Alternativen haben Zukunft. Wer sich mit dem Verweis auf Sachzwänge ins Bockshorn jagen lässt, ist selber schuld. Die globalisierungskritische Bewegung ist ja nicht nur protestierend auf den großen Konferenzen der kapitalistischen Globalisierung präsent, sondern auch auf den Foren der Reflexion über die andere Welt in Porto Alegre und anderswo.

 

Was lehrt uns die Geschichte?

 

Dass es in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nicht nur eines, sondern mehrere wirtschafts- und gesellschaftspolitische Paradigmen und auch Entwicklungsmodelle gegeben hat und gibt. Der Neoliberalismus ist also nicht Schlusspunkt am „Ende der Geschichte“.

Was wird nach der schweren Krise der neoliberalen Globalisierung folgen? Wohl kaum das Ende des Kapitalismus, wohl aber Konzepte der Regulierung globaler Kreisläufe zusammen mit der Gestaltung lokaler, solidarischer Ökonomie. Die Ökonomie muss wieder in die Gesellschaft zurück geholt werden, das Soziale muss gegen die Gier der Ökonomie verteidigt werden. Wenn dies in diesem Lande im parlamentarischen Raum nicht mehr möglich ist, weil Rotgrün in entscheidenden Politikfeldern nichts wesentlich anderes praktiziert als Schwarzgelb, dann müssen Frieden in der Welt und sozialer Ausgleich in diesem Land und anderswo außerparlamentarisch von sozialen Bewegungen verteidigt werden, so wie sie hier präsent sind.